»Das war der beste Deal meines Lebens«
Wie ein Brasilianer aus Rio die WM verbracht hat, dessen gesamtes Leben aus Fußball besteht. Ein Porträt.
(Rio de Janeiro)
Jeder in Leme kennt Eduardo. Leme, das ist ein Stadtteil Rio de Janeiros, direkt neben Copacabana gelegen, am Fuße einer dieser unverkennbaren grünen Hügel. Eduardo Mambrini, ein 45-jähriger Brasilianer mit leichtem Bauchansatz, breitem Lächeln und grauen Schläfen, ist ein ehemaliger Profi-Strandfußballer. Er hat sein ganzes Leben lang in Leme verbracht und für den Club »Colorado do Leme« gespielt. Im richtigen Leben ist er Anwalt, am Strand ist er Freistoßspezialist – mit viel Gefühl im nackten Fuß.
Wenn er durch die Straßen seines Viertels geht, muss er an jedem Kiosk, jeder Straßenlaterne, jedem Zebrastreifen kurz stoppen, um mit irgendjemandem einen Plausch zu halten. Er tut es gerne, denn meist geht es um Fußball. Heute, einen Tag nach dem Weltmeisterschaftsfinale, unterhält er sich auf der Straße mit einem alten Kumpel. Gemeinsam hatten sie schon länger überlegt, in naher Zukunft eine Reise nach Deutschland zu machen. »Mein Kumpel hat immer etwas gezögert, als es um die Reiseplanung ging, aber jetzt ist Deutschland Weltmeister und es kann ihm auf einmal nicht schnell genug gehen. Er würde am liebsten schon morgen fliegen«, sagt Eduardo grinsend.
Eduardo hat einen besonderen Bezug zu Deutschland. Seine Jugendliebe ist Deutsche und er hat dort immer noch einige Freunde. Er bezeichnet sich als Fan des 1. FC Köln. Das wissen in Leme aber nicht allzu viele Menschen. Für seine Freunde ist Eduardo derjenige, dessen Herz für den Club Flamengo Rio de Janeiro schlägt, seit er denken kann. Er war ein Junge damals, Anfang der 80er, als Flamengo mehrmals die nationale Meisterschaft gewann, die Copa Libertadores und sogar den Weltpokal im Finale gegen den FC Liverpool. Sein Lebensweg kreuzt sich immer wieder mit dem ehemaliger Flamengo-Legenden.
Eduardo erzählt, wie sein Onkel, ein Journalist, ihn einmal zu einem Bankett der brasilianischen Liga mitnahm und ihn dort Zico vorstellte, dem großen Star der damaligen Mannschaft. Eduardo brachte vor Aufregung kein Wort heraus. Ein anderes Mal besuchte er seine Tante in Leme sonntags nachmittags zum Kaffeetrinken und traute seinen Augen kaum, dass dort auf dem Sofa nicht die übliche Verwandtschaft, sondern Lico, einer von Flamengos Außenstürmern saß: »Da saß Lico, mein Lico, den ich ein paar Tage zuvor noch im Stadion angefeuert hatte«, erinnert er sich. Mit dem Nationalverteidiger Júnior, dessen Original-Trikot er besitzt, hat er öfters am Strand von Leme gekickt. »Auch die Profis genossen es, ab und zu mal bei uns Strandfußballern mitzuspielen, vor allem nach Beendigung ihrer Karriere«, sagt er. Jairzinho, gemeinsam mit Pelé der beste Spieler der Weltmeistermannschaft von 1970, wohnt bei Eduardo um die Ecke. »Jairzinho ist eine Legende. Ich treffe ihn ständig an der Tankstelle oder am Kiosk und dann quatschen wir.«
Mit seinem Vater ist Eduardo schon von klein auf ins Maracanã-Stadion gepilgert, manchmal zweimal die Woche. Sein bewegendstes Spiel war das Meisterschaftsfinale 1980, das Flamengo gegen Atletico Mineiro vor 154.000 Zuschauern mit 3:2 gewann. Und auch das neue Maracanã kennt er. Er grämt sich nicht ob der Veränderung. »Ich habe fast mein ganzes Leben im alten Maracanã verbracht. Das neue ist eben moderner, sicherer, sauberer. So ist das Leben. Dinge ändern sich.« Dass er jedoch auch während der WM einmal in seinem Stadion sein würde, daran hat er nicht geglaubt.
»Ich hatte keine Tickets und dachte die WM würde vor meiner Nase verstreichen, ohne, dass ich ein Spiel live gesehen habe.« Doch dann kamen ihm seine Gastfreundschaft und der Zufall zu Hilfe. Während der WM haben viele ausländische Gäste auf Eduardos Couch geschlafen. Unter anderem auch ein Chinese, der Freund des Mannes seiner Schwester. Eines Abends saß er mit dem Chinesen in der Kneipe. Es war der Abend vor dem WM-Viertelfinale Deutschland gegen Frankreich in Rio.
»Im Verlauf des Gesprächs fragte der Chinese mich beiläufig, ob ich Fußball möge. Ich, der Fußball in Person, antwortete völlig perplex: Fuß-was?« Das schien dem Chinesen zu genügen. Er hatte tatsächlich zwei Tickets für das WM-Viertelfinale und eines bekam Eduardo. Couch gegen Ticket. »Das war der beste Deal meines Lebens«, sagt Eduardo, der es heute noch nicht begreifen kann: »Ich lief am nächsten Tag um das Stadion herum. Ich war mein ganzes Leben lang hier und jetzt bin ich es immer noch. Aber an dem Tag fühlte es sich so an, als würde ich Geschichte schreiben. Wie oft bin ich mit meinem Vater hierhergelaufen. Und jetzt findet die WM in meinem Stadion statt. Es war Wahnsinn.«
Dass in diesem Spiel der Grundstein für das 1:7 der brasilianischen Mannschaft gegen Deutschland wenige Tage später gelegt wurde, stört Eduardo nicht mehr. Die aktuelle Seleção hat ihn nicht berührt. Er trauert vielmehr immer noch der legendären Mannschaft von 1982 nach, um den Kapitän Sócrates und viele seiner Flamengo-Helden wie Zico, Júnior oder Leandro.
»Das war die beste Mannschaft, die wir jemals hatten. Als sie völlig unerwartet durch die drei Tore des Italieners Paolo Rossi ausgeschieden ist, sind unglaubliche Dinge passiert. Die Menschen auf den Straßen haben geweint. Und es war auch das einzige Mal, dass ich selbst beim Fußball geweint habe. Das war nicht zu vergleichen mit dem 1:7 gegen Deutschland. Damals hatte man noch nicht so viele Optionen im Leben. Der Fußball war allgegenwärtig.« Bis heute kann sich Eduardo die Spiele der 82er Mannschaft nicht ansehen, nicht einmal die grandiosen Siege. Es macht ihn zu traurig.
Die WM 2014 jedoch analysiert er gerne. »Wichtig war vor allem, dass diese WM reibungslos verlaufen ist: Der Verkehr, die Metro und auch die Flughäfen funktionierten. Die Touristen mochten es, das Wetter war genial. Wir Cariocas haben uns gut um die vielen Gäste gekümmert. Die WM war auch fußballerisch super. Gute Tore wie das von James Rodriguez, gute Torwarte wie Neuer, Ochoa oder Navas. Teams wie Costa Rica oder Kolumbien, die den Etablierten Druck gemacht haben. Diese Überraschungen sind es doch, die den Fußball ausmachen.«
Am wichtigsten sei aber die Lehrstunde gewesen, die Brasilien im Halbfinale von Deutschland bekommen habe: »Immer hieß es, Felipão ist der beste Trainer, Neymar der beste Spieler. Wir dachten, wir sind die Besten. Aber das stimmt nicht. Die Mannschaft ist an dem durch solche Prophezeiungen entstandenen Druck zerbrochen. Da die Niederlage so drastisch war, weiß das jetzt auch der Letzte. Das Halbfinale war das Optimum für dieses Team. Jetzt müssen wir von vorne anfangen, den gesamten brasilianischen Fußball umkrempeln.«
Auch den Einfluss der WM auf die zukünftige brasilianische Gesellschaft hebt er hervor: »Finanziell gesehen war die WM für den Großteil der Menschen ein Desaster, da die Steuerzahler viel Geld für dieses Turnier ausgegeben haben, für nichts. Den WM-Titel, der das alles übertüncht hätte, haben wir nicht gewonnen«, sagt er. »Aber aus diesem Scheitern müssen wir lernen. Unsere Gesellschaft sollte professioneller werden. Die Deutschen sind so gut, weil sie so viel arbeiten und sich anstrengen. Das ist wichtig zu sehen, dass man mit harter Arbeit sein Ziel erreichen kann. Wir können nicht von vorneherein davon ausgehen, dass wir die Besten sind und sich alles schon irgendwie fügen wird, wie es die brasilianische Lebenseinstellung des »Jeitinho« besagt. Sondern wir müssen uns fokussieren und hart arbeiten. Das Leben schenkt einem nichts.«
Viele dieser Eigenschaften habe er bei der deutschen Nationalmannschaft gesehen, daher sei sie verdient Weltmeister geworden. Und Eduardo ist sich sicher, dass diese Mentalität in den Köpfen vieler Brasilianer nicht nur Eindruck, sondern auch Spuren hinterlassen wird. »Wir werden noch lange über diese WM nachdenken“, sagt er.
Das Finale hat Eduardo gemeinsam mit vielen Deutschen am Strand von Leme, drei Minuten von seiner Wohnung entfernt, verfolgt. Als er sich auf dem Rückweg noch einmal umgedreht hat, sei er wehmütig geworden. »Ich dachte nur, wie schade, die WM hat uns verlassen. Und eine Freundin sagte mir noch am selben Abend: Morgen beginnt in Brasilien das Jahr 2014.«
Mal wieder top geschrieben Tobias! Edu wie er leibt und lebt!