Die WM als Anregung zum Nachdenken

Die WM als Anregung zum Nachdenken

Ganz Brasilien redet, diskutiert und streitet über die WM. Verhindert wurde sie trotz vieler Proteste im Vorjahr nicht mehr. Offen ist, welches Vermächtnis sie dem Land hinterlässt. ecke:sócrates hat mit denjenigen gesprochen, die das besonders betrifft: den aktuellen Schülern.

(Porto Alegre)

In einem großen Klassenraum der Pastor Dohms Schule in Porto Alegre hat der Abschlussjahrgang heute Deutschunterricht. Die Schule ist eine Privatschule, eine der besseren der Stadt. Es ist der erste Ruhetag dieser Weltmeisterschaft, ein Tag ohne Fußball. »Das schlägt sich definitiv in den Anwesenheitszahlen nieder«, sagt Paula Paetzhold, die Deutschlehrerin. »Die WM ist eben eine Ausnahmesituation und ich kann verstehen, dass vielen Schülern die WM-Spiele momentan etwas wichtiger sind als die Deutschvokabeln.« Jetzt sei sie jedoch froh, dass heute alle Schüler da sind. Es ist eine besondere Unterrichtsstunde: Gemeinsam mit ecke:sócrates sollen die Schüler, die zwischen 16 und 17 Jahren alt sind, aus ihrer Perspektive über die WM sprechen– auf Deutsch. Hier sind einige der Antworten, die die Schüler, auf dieses Thema angesprochen, gegeben haben:

Angelo: »Ich finde, dass die WM ein tolles Event ist, aber in Brasilien haben wir eigentlich so viele andere Dinge, die Priorität haben sollten. Die WM macht Spaß, aber es fehlen Schulen und Krankenhäuser. Es gibt weniger Leute, die protestieren, als im Vorjahr. Aber wir können jetzt eh nichts mehr ändern, denn die WM ist schon da.«

Nina: »Ich bin gegen die WM. Ich weiß, dass es eine schöne Party ist, aber es gibt zu viele Negativpunkte. Die nächsten Weltmeisterschaften sind in Russland und Katar. Das ist sehr schlecht. Hier in Brasilien gibt es so viele Spannungen. Aber die FIFA denkt, dass das nicht ihre Probleme sind. Und, dass die Welt diese Probleme nicht sieht. Ich weiß, dass wir nicht mehr protestieren können, weil es zu spät ist, aber ich eigentlich müssten wir es gerade jetzt tun, damit unsere Probleme offensichtlich werden und um zu zeigen, dass die FIFA nicht alles mit uns machen kann.«

Eduardo: »Die WM ist ein großartiges Ereignis. Wir sollten nicht gegen sie protestieren, aber gegen die Regierung schon. Sie hat sehr viel Geld von den Menschen genommen und der FIFA gegeben, zum Beispiel für die Stadien.«

Nina, Matheus und Daniela diskutieren (Bild: P. Paetzhold)

Nina, Matheus und Daniela diskutieren (Bild: P. Paetzhold)

Matheus I.: »Wir wissen schon seit acht Jahren, dass die WM hier sein würde. Und wir haben nichts gemacht. Letztes Jahr haben wir zwar protestiert aber da war alles schon fast fertig. Unsere Regierung hatte schon alles organisiert. Bei den Protesten ging es um viele Dinge, die schlecht laufen im Land, zum Beispiel die Korruption. Ich war selbst einmal dabei und bin auch immer noch für diese Bewegung. Leider hätte sie eher beginnen müssen, als ein Jahr vorher. Ich finde es seltsam, dass die WM jetzt so eine Party ist. Ich verstehe nicht, wieso dieses Jahr auf einmal so viele Menschen für die Spiele sind.«

Matheus II.: »Ich denke anders. Wir Brasilianer haben eine sehr schlechte Meinung über uns selbst. Wir denken schlechte Sachen über Brasilien. Aber es gibt viele positive Punkte, die wir nicht sehen wollen. Viele Ausländer sagen das. Wie zum Beispiel die Band »Scorpions«, die ein Lied darüber geschrieben hat. Natürlich gibt es Probleme, aber es ist nicht so schlecht wie wir denken.«

Nicolas: »Ich denke auch, dass die WM eine gute Sache ist. Wir sollten sie mit der Rugby-WM in Südafrika vergleichen. Dort machte die WM die Menschen stärker, vor allem im Kampf gegen Rassismus. Wir sollten es hier so machen wie in Südafrika. Dann könnten wir uns gemeinsam gegen die Probleme mit dem System auflehnen. Nicht nur gegen Rassismus, sondern auch gegen das politische System. Unsere Generation könnte diese Probleme lösen.«

Lehrerin Paula Paetzhold mit Nicolas und Eduardo. Das Deutsch-Wörterbuch bleibt während der gesamten Schulstunde unangetastet. (Bild: privat)

Lehrerin Paula Paetzhold mit Nicolas und Eduardo. Das Deutsch-Wörterbuch bleibt während der gesamten Schulstunde unangetastet. (Bild: privat)

Nina: Die WM passiert und die Stadien sind nicht voll. Der Stadionsprecher sagt uns nicht die korrekte Zahl der Personen, die im Stadien sind. Aber wir sehen im Fernsehen, dass die Stadien nicht voll sind. Die Tickets sind zu teuer. Ich möchte zu einem Spiel gehen, aber das geht nicht. In Südafrika gab es Tickets für Kinder, was sehr schön war. Das gab es hier nicht oder nur sehr wenig.

Angelo: Aber es gibt viele öffentliche Schulen, die Tickets bekommen haben, zum Beispiel die meiner Mutter, die dort als Lehrerin arbeitet. Da konnten 20 Schüler im Stadion das Spiel Frankreich gegen Honduras sehen.

Daniela: »Ich finde, dass die WM eine große und schöne Party ist. Hier in Brasilien kommen Leute zusammen, die ein gutes Gefühl von ihrem Land haben. Und die Probleme, die wir hier haben nichts mit der FIFA oder der WM zu tun, sondern mit der Regierung. Die sollte besser investieren in öffentliche Schulen und Krankenhäuser. Ich kenne viele Schüler, die es nicht so gut haben wie wir hier. Insgesamt denke ich, dass die WM eine sehr gute Möglichkeit ist für die Leute, solche Probleme zu reflektieren und mehr über das Land nachzudenken. Ich persönlich genieße es sehr, dass so viele Ausländer in der Stadt sind, Holländer, Argentinier, Franzosen, Deutsche, mit denen wir gemeinsam feiern können.«

Für Daniela ist die WM ein Grund zum Nachdenken. Das schließe aber das Feiern mit den holländischen Fans nicht aus (Bild: privat)

Für Daniela ist die WM ein Grund zum Nachdenken. Das schließe aber das Feiern mit den holländischen Fans nicht aus (Bild: privat)

Nicolas: »Genau, ich habe zum Beispiel am Orange Square viele Holländer kennengelernt. Ich habe rausgefunden, dass Holländisch ein bisschen wie Deutsch ist. Auch die Nigerianer kennenzulernen war super, weil es eine komplett andere Kultur ist. Selbst die Argentinier, gegen die wir in Brasilien viele Vorurteile haben, sind nette Menschen und haben die Stadt nicht verwüstet, wie vorher befürchtet.«

Matheus II.: »Trotz aller Probleme: Das Gefühl, wenn Brasilien ein Tor schießt und wir zusammen jubeln – das genieße ich am meisten!«

 

Die Gruppendiskussion im Klassenraum (Bild: privat)

Die Gruppendiskussion im Klassenraum (Bild: privat)

Es klingelt zur Pause. Die Schüler haben jetzt Physikunterricht, verlassen den Klassenraum aber nur zögerlich. Sie könnten noch viel mehr über ihre WM-Erfahrungen berichten und über die Kontroversen diskutieren. Die WM ist ein Ereignis, das sich in der Erinnerung der heranwachsenden brasilianischen Generation fest verankern wird. Ein Ereignis, das viele Menschen schon in sehr jungen Jahren politisiert hat. Ob und wie sie das Land langfristig verändern wird, liegt in der Hand von Schülern wie Angelo, Nina oder Matheus.