Stammplatz Bürgersteig
Dort, wo sich in São Paulo die viel befahrenen Avenidas Santo Amaro und Padre Antonio Jose dos Santos kreuzen, bleibt tagsüber eigentlich niemandem Zeit zum Innehalten. Die Grün- und Rotphasen der Ampeln sind ungewöhnlich kurz und schon bei der geringsten Verzögerung dröhnen die Hupen der Hektiker. Sich zu Fuß durch dieses pulsierende Verkehrsdickicht zu schlängeln erscheint schon für einen jungen, gesunden Sportler wie ein Selbstmordversuch. Dass ein älterer Herr auf Krücken dies jedoch tagein tagaus erfolgreich tut, ist so ungewöhnlich, dass er es zu lokaler Berühmtheit gebracht hat. Jeder hier in der Gegend kennt ihn, Lourival, 67 Jahre alt, der sein Leben lang als Händler tätig war.
(São Paulo)
Sein breites Lächeln lenkt vom Rest seines in die Jahre gekommenen Erscheinungsbildes ab. Das Gesicht ist von Furchen gezeichnet, ohne ein Hörgerät versteht er nichts und ohne die zwei Krücken könnte er keinen Fuß vor den anderen setzen. Doch genau das vollbringt er jeden Tag aufs Neue. Steht um fünf Uhr morgens auf, um pünktlich um spätestens um halb sieben mit der Arbeit zu beginnen.
Jetzt, während der WM, hat Lourivals Geschäft Hochkonjunktur. Er ist Straßenhändler. In seinem Bauchladen, einer Art Sporttasche, die er um den Hals trägt, hat er genau drei Produkte zur Auswahl: Kaugummis, einen Brasilien-Überzug für den Außenspiegel des Autos und Brasilien-Flaggen, die man ebenfalls am Auto befestigen kann. Sein Stammplatz ist der Bürgersteig. Wenn der Verkehr fließt, unterhält er sich mit vorbeigehenden Passanten. Wenn die Autos jedoch halten, schiebt er sich auf unnachahmliche Weise zwischen ihnen hindurch und versucht seine Artikel an den Mann zu bringen.
Rund 50 Reais (umgerechnet 16 Euro) setzt er am Tag um, nach zwölf Stunden Arbeit. »Während der WM verdiene ich rund zwanzig Prozent mehr als an normalen Tagen“, sagt er. »Doch das wiegt nicht auf, was die WM mir und den anderen Menschen Brasiliens genommen hat. Die medizinische Versorgung in unserem Land ist katastrophal. Doch anstatt mehr Krankenhäuser zu bauen, errichten die Eliten Stadien.« Lourival hat seit einigen Jahren Krebs. Seit über sechs Monaten wartet er auf den nächsten Arzttermin, den er dringend braucht.
Von seiner Krankheit lenken ihn nur die Arbeit und die unzähligen täglichen Gespräche ab. Gerne spricht er auch über Fußball. »Ich glaube, dass Brasilien Weltmeister wird, aber ich hoffe es nicht«, sagt er. »Denn wenn Brasilien gewinnt, wird sich in diesem Land nichts ändern. Lieber soll Deutschland den Titel holen. Die haben ein richtiges Team, elf gute Spieler. Nicht nur einen einzigen wie Portugal mit Ronaldo, Argentinien mit Messi oder auch Brasilien mit Neymar.«
Lourival hat sein ganzes Leben in São Paulo verbracht, er war noch nie in Rio de Janeiro. Ob er sich seinen größten Traum, einmal an der Copacabana entlangzugehen, erfüllen kann, erscheint mehr als fraglich. Einen Tag zu Anfang der WM werde er jedenfalls niemals vergessen: »Ein Mann kaufte mir alle meine Brasilien-Fahnen ab. Darauf fragte ich ihn, was er denn damit vorhabe. Er antwortete, er werde sie verbrennen, allesamt.«