Die Spieleröffnung der »Paulistas«
Die Weltmeisterschaft in Brasilien hat begonnen. In den Bars und Restaurants fließt das Bier, auf den Straßen gab es die ersten brenzligen Situationen und die Fifa sorgt mit einer fragwürdigen Aktion für Stirnrunzeln. Ein Rückblick auf den Tag des Eröffnungsspiels.
(São Paulo)
Donnerstag, 13 Uhr, vier Stunden vor dem Eröffnungsspiel der WM 2014, sind die breiten Straßen im Westen São Paulos wie leer gefegt. Es ist Feiertag. Die Menschen befinden sich entweder zu Hause vor dem Fernseher oder in der Metro, auf dem Weg nach Itaquera, zur Corinthians Arena.
Nach fünf Tagen Streik fahren die öffentlichen Verkehrsmittel heute wieder einwandfrei. Natürlich überwiegt die Farbe Gelb in der vollen Bahn. Da fallen die vier neutral gekleideten Damen Mitte 40 im hinteren Waggon schon auf. Sie unterhalten sich lautstark auf Deutsch, es geht um Tickets für das gleich beginnende Eröffnungsspiel. Eine von Ihnen ist tatsächlich seit heute Morgen in Besitz eines solchen. Die Geschichte, wie sie es bekommen hat, klingt so abwegig, so skurril, dass sie gerade deshalb kaum Zweifel an ihrer Wahrheit lässt.
»Wir sind Stewardessen bei der Lufthansa und wohnen im gleichen Hotel wie die Fifa«, erzählt die blonde Frau mit 80er-Jahre Dauerwelle. »Heute Morgen kam ich in die Hotel-Lobby, in der sich ungewöhnlich viele Menschen aufhielten. Ich traute meinen Augen nicht, doch da standen tatsächlich mehrere Fifa-Mitarbeiter und verschenkten Tickets für das Eröffnungsspiel. Sie verschenkten sie nicht nur, sie warfen geradezu um sich mit Eintrittskarten. Und die Menschenmenge fing sie auf, ich konnte ebenfalls eines ergattern. Meine Kolleginnen hier kamen leider zu spät.« Eine der drei »Unglücklichen« fügt hinzu: »Wir versuchen jetzt durch einen Fifa-Kontakt aus dem Hotel direkt vor dem Stadion noch Tickets zu bekommen.« Hastig steigen die vier aus der Bahn aus und stöckeln zielstrebig auf die Corinthians Arena zu.
Was bleibt, ist Fassungslosigkeit: Wer sich in den letzten Wochen mit der WM 2014 befasst hat, weiß, dass der Großteil der Brasilianer sich keine Eintrittskarte für das Eröffnungsspiel leisten kann. Und nun sind tatsächlich noch Tickets für das Eröffnungsspiel übrig und die Fifa verschleudert diese an ausländische Hotelgäste, die in einem der teuersten Hotels São Paulos nächtigen. Der Fifa ist das Gastgeberland Brasilien gänzlich egal, allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz. Einen anderen Schluss lassen Geschichten wie die der vier Stewardessen nicht zu.
Auf einer Anhöhe steht sie, die Corinthians Arena. Ein Hubschrauber kreist permanent über ihr. Perfektes Fußballwetter, nicht zu heiß, nicht zu kalt. Perfektes Wetter auch, um Geschäfte zu machen, um Meinungen zu vertreten, um zu werben. Wo der Fußball im WM-Gewand auftaucht, da wird geschrien, gefeilscht und getrunken. Das soziale Gefüge vor dem Stadion reicht von den etlichen Fahnenverkäufern, keine Miene verziehenden Polizisten, bibelverschenkenden Christen, britischen Muslimen, die den Islam anhand einer Taktiktafel erklären (»What is your goal?«), Sponsorenvertretern in der Coca-Cola-Lounge, bis hin zu den klassischen Schwarzhändlern. 900 Dollar will einer von ihnen für eine Eintrittskarte haben. Vor einigen Minuten waren es noch 1000 Dollar. Vor den ersten Toren fallen die Preise. Die Händler werden nervös, denn nebenan im Stadion läuft schon die Eröffnungszeremonie.
Die Möglichkeiten das Eröffnungsspiel, das zweieinhalb Milliarden Menschen auf der Welt verfolgen, vor dem Stadion zu sehen, sind begrenzt. Eine einsame Leinwand hält die Stellung, vor ihr tobt ein Menschenwirrwarr, das hauptsächlich aus Brasilianern und ein paar rotweiß gekleideten Kroaten besteht. Wer kein Ticket und es auch nicht mehr in diesen Bereich geschafft hat, muss umdisponieren. In 20 Minuten geht die WM los.
Szenenwechsel. An der Metrostation Tatuapé, acht Stationen vom Stadion entfernt, herrscht eine gespenstische Atmosphäre. Hier und in der Umgebung hat es vor einigen Minuten noch Demonstrationen und Proteste gegeben. Ein letztes, verzweifeltes »Nao vai ter Copa« – Es wird keine WM geben – kurz bevor es sie doch geben wird. Oder doch ein Neuanfang der Bewegung aus dem Vorjahr? Das große Polizeiaufgebot an dieser Station, lässt ahnen, dass letzterer durchaus noch möglich ist. Jetzt aber bewachen die Männer mit ihren klobigen Schutzschildern einen leeren Bahnhof.
Nebenan befindet sich ein raues, aber herzliches Fast-Food-Restaurant mit Bahnhofskneipencharme. Hier gibt es Pommes, Käse-Schinken-Sandwiches und Bier. Ein kleiner Fernseher muss für den ganzen Raum reichen. Die Stimmung ist angespannt, viele der anwesenden Brasilianer verfolgen andächtig die ersten Minuten des Spiels. Laut ist es trotzdem. Das liegt an den unzähligen Tröten, die den ganzen Laden aus allen Himmelsrichtungen stakkatoartig beschallen. Sein eigenes Wort versteht man eigentlich nur zweimal innerhalb der 90 Minuten: nach Marcelos Eigentor und vor Neymars Elfmeter zum 2:1. Die Zeitspanne, die verstreicht, nachdem sich Neymar den Ball zurechtgelegt hat, wirkt nicht nur außergewöhnlich lang, sondern sie ist es auch. »Warum wartet der so lange?«, scheint ein Mann direkt unterhalb des Fernsehers seinen Nebenmann zu fragen. Und nun verstummen auch kurzzeitig die Tröten. Denn in diesem Moment entscheidet sich viel mehr als nur das Spiel. Und Neymar trifft.
Nach Spielende kennt ein Brasilianer namens Vagner, der schon während des Spiels mehrmals auf den Tisch gestiegen ist, kennt kein Halten mehr. »Ich bin überglücklich und das sollte das ganze Land sein. Das war ein schwieriges Spiel, aber wir haben es gewonnen. Alle Getränke gehen heute auf mich«, sagt er. Und das waren nicht wenige.
Brasilien entscheidet das wichtige Eröffnungsspiel für sich, sportlich läuft so zumindest erst einmal alles nach Plan. Der Abend an diesem Feiertag ist nach Spielschluss noch jung, doch die »Paulistas«, wie man die Menschen in São Paulo nennt, haben sich in den vergangenen Stunden schon komplett verausgabt. Haben gefiebert, getrunken, getanzt – und an anderer Stelle demonstriert. Die Stimmung auf den Straßen schwankt zwischen Euphorie und Müdigkeit. Irgendwie kann niemand mehr richtig feiern, aber nach Hause will auch keiner.
An einer Straßenecke in der Nähe des Viertels Vila Madalena steht der 20-jährige Caio mit ein paar Freunden und trinkt gemütlich ein Dosenbier. Ein Joint macht die Runde. Was er nach dem frühen Eigentor durch Marcelo gedacht habe? »Ich dachte nur, bitte bitte nicht. Wollen wir uns nach den ganzen negativen Schlagzeilen der letzten Wochen über unser Land jetzt auch noch im Fußball vor der Welt blamieren?«, sagt er. Und obwohl er sich eigentlich nicht groß für Fußball interessiert und der WM gegenüber sehr skeptisch eingestellt ist, spürt man, wie wichtig ihm dieser Sieg ist.