Die Herbergen des Fußballs
Häufig wie nie zuvor war in den letzten Wochen in den deutschsprachigen Medien von Brasilien als Land der Gegensätze die Rede. Hin- und hergerissen zwischen der fast traditionellen Lust auf Fußball und der nun schon vor der »Copa da Copas« lähmenden Ernüchterung. Das reine, pure Spiel des Fußballs, das so sehr mit Brasilien assoziiert wird steht in krassem Widerspruch zu der durchkommerzialisierten Show, die die Fifa und ihre Sponsoren in den nächsten sechs Wochen veranstalten werden. ecke:sócrates ist vor Ort und konnte derartige Widersprüche an nur einem einzigen Tag erleben.
(São Paulo)
Nur ein paar Hundert Meter Luftlinie von der Corinthians Arena entfernt, dem Ort, an dem am kommenden Donnerstag die WM angepfiffen wird, befindet sich ein kleiner Bolzplatz. Sein steppenähnliches Spielfeld ist von kleinen Grasbüscheln übersäht, eine bemalte Mauer auf der einen und ein Zaun auf der anderen Seite bilden die Grenzen und eine einsame Brasilien-Flagge beobachtet das Geschehen vom Schornstein eines der angrenzenden Hochhäuser aus. Es ist zehn Uhr morgens und drei Jungs, Vinicius, Rai und Pedro, stürmen den Platz und beginnen sofort Ball um Ball durch die nicht vorhandenen Tornetze zu jagen.
Es ist ein besonderer Ball. Andrew Aris, ein großer, langhaariger Neuseeländer mit dezentem Kinnbart, Typ Weltenbummler hat ihn mitgebracht. Er arbeitet für den Verein »Spirit of Football«, dessen Gründer vor den letzten Weltmeisterschaften jeweils mit einem Ball um die ganze Welt reisten und ihn von allen Menschen, die ihnen auf dem Weg begegneten signieren ließen. Der diesjährige Ball wurde von einem Gefängnisinsassen in São Paulo genäht und hat schon diverse Länder in Europa und auf dem gesamten amerikanischen Kontinent bereist, bevor er kurz vor der WM wieder an seinen Heimatort zurückkehrte.
Auch Fußballgrößen wie Dani Alves, Mats Hummels und der uruguayische Siegtorschütze des Entscheidungsspiels der letzten brasilianischen WM 1950, Alcides Ghiggia, haben ihn schon unterzeichnet. »Der Ball ist wie die Olympische Fackel«, sagt Andrew. »Er ist ein Symbol für das Zusammenwachsen der Welt.« »One Ball, one world« lautet das Motto der Organisation. Verbunden mit der Reise des Balls sind dabei stets Spiele und Workshops, in denen vor allem Jugendlichen die Gedanken des Fairplay und des Teamgeists vermittelt werden sollen.
Es dauert nicht lange, da findet sich der von einer sechsmonatigen Reise und tausenden Unterschriften gezeichnete Ball in einem rasanten Spiel zwischen Andrew und seinen zwei Bekannten und den drei brasilianischen Jugendlichen wieder. Als die Spieler am Ende ziemlich erschöpft gemeinsam mit einer Wasserflasche am Spielfeldrand sitzen, erzählt der 16-jährige Vinicius seine Geschichte.
Er kommt aus dem Stadtteil Itaquera und gehört zu einer der Familien, deren Zuhause dem neuen Stadion weichen musste. Er hätte allen Grund die WM zu verfluchen, doch er kann es nicht: »Ich liebe den Fußball, spiele schon seit ich klein bin und kann mir nichts Größeres vorstellen als eine Weltmeisterschaft direkt vor meiner Haustür«, sagt er. Wie zum Beweis zeigt er später in seinem neuen Zimmer stolz mehrere Trikots und den WM-Spielplan an der Wand. Vielleicht liegt sein nicht vorhandener Zorn auch daran, dass die neue Wohnung seiner Familie sich im selben Stadtteil befindet, was längst nicht allen auf Druck der Fifa umgesiedelten Familien vergönnt war.
Andrew hingegen, der in Erfurt studiert und während der WM 2006 sogar für die Fifa gearbeitet hat, kann seinem ehemaligen Arbeitgeber nichts mehr abgewinnen. »Je mehr ich über das Wirken der Fifa in Brasilien erfahre, desto wütender werde ich«, sagt er. »Die Fifa kommt in ein Land, kassiert ein paar Wochen lang ab und geht dann wieder. Zurück bleiben Probleme.« Es gebe nur Lippenbekenntnisse und sozialen Marketingtricks, jedoch keinen nachhaltigen Ansatz. »Dabei könnte man doch zum Beispiel aus solch einem Stadion so viel Gutes schöpfen, wenn man es zum Beispiel zum Kulturzentrum für alle umfunktionieren würde.«
Die Menschen, die Andrew kritisiert und die dafür verantwortlich sind, dass Vinicius‘ Familie umziehen musste, sitzen an diesem Tag in derselben Stadt, einige Kilometer südwestlich. Die Abenddämmerung hat schon eingesetzt, als vor dem Grand Hyatt Hotel im Stadtteil Morumbi eine Motorradkolonne um die Ecke biegt. Dicht dahinter folgt eilig ein schwarzer SUV mit verdunkelten Fensterscheiben, der das Fifa Logo und das Kennzeichen »001« trägt. Präsident Sepp Blatter auf dem Weg zum Abendessen, so scheint es. »Was der Herr Blatter heute noch vorhat, weiß nur sein engster Betreuungsstab«, sagt die Frau vom Empfang.
Vor dem diese Woche stattfindenden Fifa-Kongress und der WM steht die Organisation so stark wie zu keinem anderen Zeitpunkt in ihrer Geschichte unter Druck. Von außen hagelt es täglich neue Kritik an den Weltmeisterschaften in Brasilien und Katar und im Inneren gibt es große Unstimmigkeiten. Davon ist an diesem Abend in der luxuriösen Lobby des Grand Hyatt jedoch kaum etwas zu spüren. Im Gegenteil: Es ist ein einziges großes Händeschütteln, ein Grinsen breiter als das nächste. An der Hotelbar wird gut getrunken und eine Dame mit dreißig Zentimeter hohen Absätzen und eine Leopardenmuster-Jacke wird direkt nach ihrem Erscheinen in der Lobby dezent von einem Hotel-Mitarbeiter zum Aufzug geleitet. Generalsekretär Jerome Valcke rauscht zu späterer Stunde mit einem gewinnenden Lächeln und ein paar Schulterklopfern an den etlichen Lobby-Stehern vorbei. Die Fifa ist gut in Brasilien angekommen und geht, um im Fußballjargon zu bleiben, mit breiter Brust ins Turnier.
Die Widersprüchlichkeit des Landes Brasiliens vor der WM, sie kann man schon an einem einzigen Tag erfahren. Ein Junge muss wegen der WM umziehen und freut sich trotzdem wahnsinnig auf sie. Ein ehemaliger Fifa-Mitarbeiter versucht nun in einem Fußball-Sozialprojekt den wahren »Spirit of Football« zu finden. Und vom holprigen Bolzplatz bis zur marmornen Hotellobby sind es nur wenige Kilometer. Beide beherbergen den Fußball – auf ihre eigene Art und Weise.