»Nichts hat diese Menschen verbunden«

»Nichts hat diese Menschen verbunden«

Im Gespräch mit ecke:sócrates erklärt der renommierte brasilianische Schriftsteller Luiz Ruffato die Gemeinsamkeiten zwischen Literatur und Fußball, Brasiliens Identitätskrise und warum die Demonstrationen rund um den Confederations Cup nicht zu mehr Gemeinsamkeit, sondern zu mehr Individualismus geführt haben.

 

Luiz Ruffato gilt als einer der bedeutendsten brasilianischen Schriftsteller. Als Sohn einer Waschfrau und eines Popcornverkäufers wuchs er in ärmlichen Verhältnissen auf und hat seine literarische Karriere auch einigen glücklichen Fügungen zu verdanken. Im vergangenen Oktober hielt er die Eröffnungsrede der Frankfurter Buchmesse und prangerte dort vehement die Ungerechtigkeiten innerhalb der brasilianischen Gesellschaft an. Vor diesem Hintergrund blickt der bekennende Fußballliebhaber der WM im eigenen Lande mit gemischten Gefühlen entgegen.

ecke: Herr Ruffato, Sie haben im September 2013 mit »Der Schwarze Sohn Gottes« ein Buch mit verschiedenen Fußballgeschichten aus Brasilien in Deutschland veröffentlicht. Was bedeutet Ihnen der Fußball?

Ruffato: Ich mag den Fußball sehr. Der Fußball kann zugleich Freude und Spektakel bedeuten, oftmals aber auch skandalöse Ausmaße annehmen. Das passiert dann häufig in Ländern wie Brasilien.

ecke: Die Geschichten in ihrem Buch haben alle den Fußball zum Thema, meist jedoch eher indirekt. Sie stellen eine Art Querschnitt der brasilianischen Gesellschaft dar und lassen den Leser immer wieder kurz in die brasilianische Alltagswelt eintauchen. Gab es eine Geschichte, die Sie besonders berührt hat?

Ruffato: Als ich das Buch konzipiert habe, dachte ich daran, dass es großartig wäre, wenn einige der bedeutendsten brasilianischen Schriftsteller eine Geschichte dazu beitragen könnten. Das ist mir gelungen. Ich finde jede einzelne Geschichte darin exzellent.

ecke: Die Literatur und der Fußball sind zwei Ihrer großen Lebensthemen. Was haben die beiden gemeinsam?

Ruffato: Fußball kann Kunst sein…Denken Sie an die Ästhetik  dieses Spiels! Ich finde, da sind sich der Fußball und die Literatur sehr ähnlich: Beide geben sich große Mühe auf eine gewisse Art und Weise ästhetisch zu sein.

ecke: Im Juni 2014 beginnt die WM in Brasilien. Mit welchen Gefühlen blicken Sie diesem Großereignis in ihrem Land entgegen?

Ruffato: Ehrlich gesagt mit gemischten Gefühlen. Wir Brasilianer identifizieren uns stark mit dem Fußball als Spiel. Für viele ist dieser Sport eine Passion. Aber die Probleme bei der Organisation der Weltmeisterschaft, z.B. die Korruption sind keinem verborgen geblieben. Der Großteil der Brasilianer ist darüber schwer enttäuscht.

ecke: In Ihrem fünfteiligen Epos »Vorläufige Hölle« erzählen Sie mit Hilfe fiktionaler Charaktere im Grunde die Geschichte vom Aufstieg der brasilianischen Arbeiterklasse in den letzten 50 Jahren. Welche Rolle hat die Parallelwelt des Fußballs bei der Transformation Brasiliens vom aufstrebenden Schwellenland bis hin zur postindustriellen Gesellschaft gespielt?

Ruffato: Ich glaube der Fußball ist ein sehr volatiles, sehr sprunghaftes Phänomen. Ich finde es enorm wichtig, Tag für Tag über Fußball zu diskutieren, weil immer etwas passiert. Ich denke viele Brasilianer würden mir da beipflichten. Aber ich würde nicht sagen, dass der Fußball Einfluss auf die Entwicklung der brasilianischen Mentalität, Wirtschaft oder Gesellschaft in den letzten 50 Jahren genommen hat.

ecke: Brasilien ist schon immer ein Migrationsland gewesen. Die Folgen der Migration haben Sie einmal damit beschrieben, dass man nie das Gefühl habe, wirklich nach Brasilien zu gehören. Das Land gehöre Allen und Niemanden. Wie würden Sie die brasilianische Identität beschreiben?

Ruffato: Das ist ja exakt das brasilianische Problem: Wir haben nichts gemeinsam, das uns vereint…

ecke: Kann da nicht die brasilianische Fußballnationalmannschaft, die Seleção, als solch eine Gemeinsamkeit dienen und zur Identität beitragen?

Ruffato: Nein. Da darf man die Macht des Fußballs nicht überschätzen.

ecke: Ihre Protagonisten sind keine Idealfiguren oder Revolutionäre, sondern einfache Menschen, die lediglich teilnehmen wollen an der Gesellschaft. Das erinnert an die Proteste beim Confederations Cup letztes Jahr. Die Menschen, die dort auf die Straße gingen und lautstark Änderungen in der brasilianischen Gesellschaft forderten, waren normale, häufig zuvor unpolitische Menschen. Ein Großteil stammt aus der Mittelschicht. Wie haben Sie diese Demonstrationen erlebt?

Ruffato: Meiner Meinung nach sind diese Bewegungen erst Recht eine Manifestation des brasilianischen Individualismus.

ecke: Es waren doch aber Millionen von Menschen auf der Straße.

Ruffato: Ja, eben. Es begann mit Millionen von Menschen auf der Straße, dann waren es Tausende und am Ende nur noch ein paar Hundert. Im Endeffekt hatte jeder dort seine eigenen Wünsche und Probleme. Aber nichts hat diese Menschen verbunden…

ecke: Wird es Ihrer Einschätzung nach trotzdem während der WM wieder zu Demonstrationen und Protesten kommen?

Ruffato: Definitiv. Wie viele Leute diesmal daran teilnehmen werden und welche Relevanz diese Demonstrationen haben können, weiß ich nicht. Aber ich glaube, wenn Brasilien vorankommen möchte, ein politisch und wirtschaftlich bedeutendes Land werden möchte, dann kann das nur gelingen, wenn endlich das Bildungssystem reformiert wird. Darin sehe ich neben allen anderen Aspekten das größte Problem – und das war auch aus den genannten Bewegungen immer wieder herauszuhören.

ecke: Sind derartige Themen auch für Sie als Schriftsteller interessant?

Ruffato: Prinzipiell interessieren mich als Schriftsteller alle Themen. Aber ich schreibe nicht, um dieses oder jenes Thema zu diskutieren oder aufzuwerfen. Mir geht es vor allem um das Handwerk der Literatur. Die Literatur ist für mich eine sprachliche Herausforderung. Das letztendliche Thema des Buches ist zwar sehr, sehr wichtig, aber nur, wenn es der Ästhetik des Geschriebenen dient.

ecke: Ihr Vater hat lange Zeit als Popcorn-Verkäufer gearbeitet, Sie ebenfalls. Aus welcher Perspektive betrachtet ein Popcornverkäufer in São Paulo die kommende WM?

Ruffato: Ein Popcorn-Verkäufer in São Paulo wünscht sich nichts sehnlicher, als dass die brasilianische Mannschaft Weltmeister wird. Denn nur dann wird er das Geschäft seines Lebens machen.

ecke: Der brasilianischer Abwehrspieler Dante Bonfim spielt in Deutschland und ist hier sehr beliebt und erfolgreich. Sein Werdegang erinnert an Ihren eigenen. Wird er bei der WM eine wichtige Rolle spielen?

Ruffato: Ich denke viele brasilianische Spieler haben eine ähnliche Lebensgeschichte wie ich. Der Fußball ist eine der wenigen Chancen in der Gesellschaft aufzusteigen. Dantes Qualität kann ich nicht einschätzen. Diese WM wird höchstens ein einziger brasilianischer Spieler dominieren: Neymar.

ecke: Eine letzte, obligatorische Frage: Wer wird Weltmeister?

Ruffato: Ganz klar: Brasilien und Deutschland werden den Sieg unter sich ausmachen.

ecke: Vielen Dank für das Gespräch.