Eine deutsche Komödie
Eigentlich ist es die Grundidee des Hintergrund-Journals ecke:sócrates während der WM in Brasilien auf Themensuche vor, hinter und neben, aber vor allem außerhalb der Stadien zu gehen. Doch Ausnahmen bestätigen die Regel. Wie es dazu kam: Ein persönlicher Erfahrungsbericht.
(Porto Alegre)
Bisher habe ich die WM am Rande des fußballerischen Geschehens verfolgt. Ich war abseits der Stadien unterwegs, auf der Suche nach brasilianischen Gesprächspartnern, die mir spannende Geschichten erzählten und mir erklärten, welchen Einfluss die WM auf ihr Land hat. Natürlich hat der Fußball meinen Weg hier und da gestreift, das ist bei der Sympathie, die ich für diesen Sport seit über zwanzig Jahren hege, auch nicht zu vermeiden. Und das möchte ich auch gar nicht vermeiden. Allerdings ist mir in den vier Wochen, die ich inzwischen in Brasilien bin, in vielen Gesprächen klargeworden, dass ich diese WM differenzierter betrachten muss.
Vor der Reise nach Brasilien wäre es für mich das Nonplusultra gewesen, einmal ein WM-Spiel live im Stadion mitzuerleben. Nach meinen bisherigen Erlebnissen dachte ich anders. Warum sollte ausgerechnet ich, als im Vergleich zur Mehrheit der brasilianischen Bevölkerung reicher »Gringo«, mir im Stadion ein Spiel anschauen, wo dies doch der große Traum so vieler Brasilianer ist. Brasilianer, die ich tagtäglich auf der Straße sehe, mit denen ich teilweise befreundet bin und die sich niemals solch ein WM-Ticket leisten könnten. Warum sollte ich die Organisation Fifa, deren Puzzle in meinem Kopf sich in den letzten Wochen um so manches dunkles Teil ergänzt hat, durch mein Geld unterstützen? Die Spiele würde ich mir weiteranschauen, aber es gab für mich keinen Grund mehr ins Stadion zu gehen.
Diese Gedanken kreisten noch am Morgen des 30. Juni zum wiederholten Male in meinem Kopf. Dann stehe ich plötzlich auf diesem Marktplatz in Porto Alegre und sehe nicht richtig: Vier Wochen lang habe ich mit Brasilianern zusammengelebt, hauptsächlich Portugiesisch gesprochen, die brasilianische Musik liebgewonnen. Und dann umringen mich auf einmal Hunderte von Deutschen, sprechen bayrisch, schwäbisch, fränkisch und norddeutsch. Auf einer improvisierten Bühne läuft Oktoberfestmusik: »Und jetzt die Hände zum Himmel…«
Ich kann mir im Nachhinein nicht erklären wieso, aber mein erster Impuls ist es, mich nicht zu erkennen zu geben. Ich bin mit brasilianischen Freunden dort, wir haben gerade ein Bier geöffnet. Doch dann blicke ich an mir herunter und sehe unter meine Regenjacke das Grün-Weiß meiner Deutschland-Trainingsjacke aufblitzen. Aus irgendeinem Grund muss ich die ja angezogen haben. Es dauert nicht lange, schon komme ich mit mehreren Deutschen ins Gespräch. Und plötzlich genieße ich es. Es tut gut, nach insgesamt sechs Monaten im Ausland, nicht nur am Telefon, sondern im Umkreis von 50 Metern um mich herum nur meine Muttersprache zu hören. Wieder zu einhundert Prozent präzise das sagen zu können, was ich auch sagen möchte. Die Stimmung ist gut, ich freue mich auf das Spiel gegen Algerien.
Einige Minuten später unterhalte ich mich mit Fans des »FanClub Nationalmannschaft«. Aus einer Laune heraus frage ich sie, ob sie nicht zufällig noch ein Ticket für das Spiel übrig hätten. »Dreh dich mal um«, antwortet einer von ihnen. Ich drehe mich um und sehe einen Mann mit grüner Kapuzenjacke und Rucksack grinsend vor mir stehen. »Wie viele Tickets brauchst du?«, fragt er. »Nur eins«, antworte ich völlig perplex. »Kein Problem«, sagt er. »Verkaufe ich dir zum Originalpreis.« Spätestens jetzt bin ich fassungslos. Und willige ein. Es geht alles sehr schnell.
Wie in Trance gehe ich zur nächsten Bank, um das Geld für das Ticket abzuheben. Auf dem Weg dorthin blitzen die ersten Gewissensbisse auf. Doch dann schiebe ich die Kreditkarte in den Schlitz. Wie so häufig an brasilianischen Geldautomaten spuckt die Maschine beim ersten Versuch keine Scheine aus. Was will mir die Maschine damit sagen, ist das vielleicht ein Zeichen? Mit zittrigen Fingern versuche ich es ein zweites Mal. Mir fallen die Interviews ein, die ich diversen Medien über ecke:sócrates gegeben habe und darüber, dass ich während der WM nicht im Stadion sein werde. Der Automat braucht lange. »Wenn es jetzt wieder nicht funktioniert, dann soll es halt nicht sein«, denke ich mir, schon halb erleichtert. Doch dann kündigen sich durch ein ratterndes Signal die ersten Geldscheine an. Als ich sie in der Hand halte, weiß ich, dass es kein Zurück mehr gibt.
Spätestens jetzt werde ich vollends in die deutsche Blase gesogen, die sich zwei Stunden vor dem Spiel zu Fuß auf den Weg zum Stadion macht. Aus einer der Hauptstraßen Porto Alegres ist zu diesem Anlass der so genannte »Caminho do Gol« geworden. Eigentlich war hier für 13 Uhr eine Demonstration gegen die WM angekündigt, die der eigentliche Grund für meinen Besuch des Marktplatzes war. Doch von der ist nichts zu sehen. Stattdessen strömt jetzt eine Art feiernder Karnevalszug in Richtung des »Estadio Beira-Rio«, des Stadions am Fluss.
Diejenigen Brasilianer, die den Zug begleiten, haben sich ebenfalls Deutschland-Trikots angezogen oder sich die Wangen schwarzrotgold eingefärbt. Viele Menschen in Porto Alegre wollen Teil des Spektakels sein. Porto Alegre ist keine Touristenstadt wie Rio de Janeiro und liegt nicht am Strand wie Salvador oder Fortaleza. Hier herrscht im Winter tatsächlich Winter. Ein junger Mann namens Juliano erzählt mir, dass ich erst die zweite ausländische Person sei, mit der er sein Schulenglisch trainieren könne. »Es gibt hier in der Stadt wenig Austausch. Viele Bürger Porto Alegres waren noch nie im Ausland und es kommen außer vereinzelten Argentiniern und Uruguayern auch wenige Ausländer in die Stadt«, sagt er. Die Stadt empfängt selten Gäste und möchte daher ein umso besserer Gastgeber sein.
Im Stadion an sich herrscht zu Beginn eine ausgelassene Stimmung, allerdings durchzogen von vehementen »Fifa raus«-Rufen der deutschen Fans. Seit dem Verbot einiger Banner während des Ghana-Spiels stehen sie mit dem Weltverband auf Kriegsfuß. Auch während dieses Spiels geraten sie wegen Fifa-kritischer Flaggen wieder mit den Ordnern aneinander. Hierzu berichtet ecke:sócrates demnächst ausführlicher.
Das Spiel selbst trägt eher komödiantische Züge. Nicht nur wegen Thomas Müllers Slapstick-Freistoßeinlage, sondern auch wegen eines gewissen Tom Gerhardt, besser bekannt als »Hausmeister Krause«, der im Stadion auch in dieser Rolle neben mir steht und fußballanalytische Kommentare zum Besten gibt. Seine Frau ist Brasilianerin und er daher mehrmals im Jahr in Brasilien. Das Deutschland-Spiel lässt er sich nicht entgehen, auch wenn er in der zweiten Halbzeit für rund 20 Minuten in den Stadienkatakomben verschwindet. Verpasst hat er bekanntlich nichts.
Nach dem Spiel sind die deutschen Fans erleichtert. »Das ist gerade nochmal gut gegangen. Gegen Frankreich müssen wir uns steigern.« Dann werden aber auch schon die ersten Gesänge angestimmt: »Wir haben Heimspiel in Rio…« Trotz aller Bedenken im Vorhinein, die ich auch weiterhin in mir trage: Ich bin froh dabeigewesen zu sein.
Als ich dann später mit meiner sechsköpfigen brasilianischen Gastfamilie und einigen ihrer Freunde zu Abend esse, kommt mir dieser deutsche Nachmittag vor wie ein kurzer Tagtraum. Ich bin wieder in Brasilien.
Großartig geschrieben digga!